Zu Besuch bei den Wanderwege Graubünden

Weiterbildungskurse für Alle

Wer des Laufens und Lesens mächtig ist, kann auch wandern. Die lückenlose, gelbe Signalisation lässt einen zuverlässig ankommen. Hierzulande wandern rund vier Millionen Menschen regelmässig. Es handelt sich um die mit Abstand beliebteste Freizeitaktivität der über 15-Jährigen. Im Gegensatz zu den nächstbeliebten Sportarten wie Radfahren, Schwimmen und Skifahren, braucht es auf einfachen Wegen keine besonderen technischen Fähigkeiten.

Dieser niederschwellige Zugang zum Wandern ist wichtig. Naturerlebnisse und das Ausleben der Bewegungsfreude sollen für alle möglich sein. Nur: Ist es wirklich so einfach, wie Mann bzw. Frau denkt? Eine Befragung von Wandernden in verschiedenen Wandergebieten ergab Erstaunliches: Ein Viertel der befragten Personen gab an, dass sie sich im Vorfeld nicht speziell informiert hätten. Dabei handelt es sich mehrheitlich um Wandernde in den Naherholungsgebieten. Wandernde in einer SAC-Hütte sind nur zu einem kleinen Anteil ohne vorgängige Abklärungen unterwegs. Immerhin.

Das Grundwissen zum Wandern
«Oft geht vergessen, dass auch zum Wandern ein gewisses Mass an Grundwissen nötig ist. Dieses geht über die Kenntnis der verschiedenen Wegkategorien, deren Bedeutung und Signalisation hinaus», sagt Stephan Kaufmann, Geschäftsleiter der Wanderwege Graubünden. Er eröffnet den Kurs «Keine Angst vor Herdenschutzhunden» am Plantahof in Landquart. Man sollte auch wissen, wie man sich im Gelände orientieren kann und wie man sich bei Begegnungen mit einer Mutterkuhherde oder einer von Herdenschutzhunden bewachten Schafherde verhalten soll – oder eben wie nicht. «Es gibt beim Wandern Risiken, die nicht sofort erkennbar sind. Informieren und sensibilisieren ist deshalb ein zentrales Anliegen von uns», sagt Kaufmann und ergänzt: «Die Mehrfachnutzung der Wanderwege ist eine Herausforderung. Probleme entstehen dort, wo sich viele Menschen aufhalten. Wir berücksichtigen die Anliegen des Freizeitverkehrs und der Landwirtschaft gleichermassen.»

Stephan Kaufmann, Geschäftsleiter der Wanderwege Graubünden (Mitte, blaue Jacke), beim Kurs «Keine Angst vor Herdenschutzhunden».

Keine Angst vor Herdenschutzhunden

18 Kursteilnehmer*innen folgen den Erklärungen von Jan Boner, Berater Herdenschutz und Hundewesen am Plantahof. Im Kanton Graubünden ist das Thema seit Jahrzehnten von hoher Relevanz. Aktuell geht man von ca. 80 Wölfen aus (50 weitere wurden in der restlichen Schweiz gesichtet). Etwa gleich viele Hunde sind im Einsatz. Sie sind grösser als der Wolf, so haben sie die gleich starken Kiefer wie der Wolf, zudem geländetauglich, wetterfest, teamfähig, fit und sie arbeiten selbstständig mit verschiedenen Nutztieren. Boner erklärt, dass die Konstellation Wolf – Nutztiere – Herdenschutzhund autark funktioniert. Problematisch werde es erst, wenn der «Zweibeiner» eingreift.
Die gute Nachricht für alle «Zweibeiner», welche sich vor den rund 80 Kilogramm schweren Tieren fürchten: Jeder Hund in der Schweiz wird vor einem Einsatz geprüft. Er wird auf seine Arbeit vorbereitet und positiv sozialisiert. Die schlechte Nachricht: Es gibt trotzdem keine 100-prozentige Garantie, dass es zu keinen Konflikten kommt.

Die Gründe sind vielfältig und situationsbedingt. Zwar können Herdenschutzhunde zwischen Wölfen und Menschen unterscheiden, aber:

  • schlechte Erlebnisse mit Menschen können eine aggressive Prägung begünstigen,
  • Begleithunde werden als Gefahr für die Herde taxiert und lösen heftige Reaktionen aus,
  • die aktuelle Konstitution aller Beteiligten spielt eine grosse Rolle. Die Hunde können beispielsweise durch eine nächtliche Wolfsattacke noch aufgeregt oder erschöpft sein und anders reagieren als gewohnt. Die Anspannung und das Verhalten der Wandernden können die Hunde aufschrecken oder übermässig reizen.


Das richtige Verhalten für friedliche Begegnungen entnimmt man Informationstafeln im Gelände, Flyern oder diversen Onlinekanälen. «Die Verhaltensregeln sind wichtig. Aber es sind eben stark reduzierte Zusammenfassungen», sagt Jan Boner. Er arbeitet seit mehreren Jahrzehnten mit Herdenschutzhunden und spricht deren Sprache: «Der Hund prüft ständig die emotionale Beziehung. Die Kommunikation beginnt mit dem ersten Blick. Diese Botschaft kommt manchmal aus mehreren hundert Metern Entfernung. Dann entscheiden die ersten Sekunden. Wenn man die Geschwindigkeit sofort stark verlangsamt und den Körper etwas abdreht, um die Herde weiträumig zu umgehen, signalisiert man dem Hund, dass alles in Ordnung ist und keine Gefahr droht.»

 

Jeder «Eindringling» in das Gebiet der Schafherde wird von den Schutzhunden geprüft.

Was in der Theorie logisch klingt, wird anschliessend in der Praxis erprobt. Boner hält sich schweigend im Hintergrund, ein halbes Dutzend Kursteilnehmer*innen nähert sich respektvoll einer von zwei Hunden bewachten Schafherde im Rheintal. Langsam steigen die fremden Menschen über den Zaun. Die Hunde reagieren vorbildlich, prüfen die Eindringlinge und beruhigen sich bald. Der Rest der Gruppe tritt in die Weide und wird von den Hunden gemustert und beschnuppert. Ein absichtliches, lautstarkes Rufen und gleichzeitiges Herumwirbeln einer Jacke bringt nochmals Unruhe. Blitzschnell und bellend rennt einer der Hunde zum mutwilligen Verursacher, bleibt dort stehen und entspannt sich wieder, als sich der Mensch nicht mehr bewegt.

Natürlich sind diese Hunde top ausgebildet. Sie dienen immer wieder als «Testhunde» für solche Kurse. Aber: «Jede Handlung wird von den Hunden frisch beurteilt. Auch wenn vorgängig ein guter Kontakt stattfand, kann ein Hund die nächste Situation anders beurteilen und anders reagieren», erklärt der Fachmann. Eine Begegnung mit Schutzhunden erfordert also Aufmerksamkeit, bis man das Gebiet verlassen hat.

 

Wer Angst hat, meidet die Gebiete
Die Tiere spüren Spannung, riechen oder lesen Angst schnell. Wer Angst hat, kann die körperlichen Signale kaum verbergen. Jan Boner empfiehlt, die Hände in die Hosentasche zu stecken, um nicht unbewusst mit den Armen zu fuchteln und auch nicht mit Wanderstöcken. Wenn möglich den Abstand weiter vergrössern und falls ein Hund beissen will, den Rucksack hinhalten, ohne loszulassen. Besser ist man in der Mitte einer Gruppe aufgehoben, die sich als abschirmende Blase bewegt. Signalisiert ein Hund lautstark und anhaltend sein Missfallen, nimmt man die Eigenverantwortung wahr und kehrt um. Wer Begegnungen mit Herdenschutzhunden gänzlich verhindern möchte, prüft vor der Wanderung die interaktive Karte und meidet die eingezeichneten Gebiete während der Alpsaison.

Jan Boner erklärt die Arbeitsweise des Herdenschutzhundes und demonstriert das richtige Verhalten von Wandernden.

Begegnung mit Mutterkühen

Wanderwege führen ab und zu durch Weiden von Mutterkuhherden. Die Tiere sind in der Regel kräftiger als Milchkühe, ihre Euter hingegen kleiner. Im Gegensatz zu den von Hunden bewachten Herden sind Alpweiden, wo sich Mutterkühe aktuell aufhalten, nicht in Karten erfasst. Es gab zwar im Tourismuskanton Graubünden ein Pilotprojekt mit GPS-Trackern. Eine praxistaugliche Lösung ist aber noch Zukunftsmusik. Die zentralen Herausforderungen liegen in der grossen Anzahl der betreffenden Alpweiden (ca. 700 oder ein Drittel der Bauernbetriebe in GR), dem Bewegungsradius der Tiere und der technischen Umsetzung bzw. Gerätewartung.

«Verbote, gesperrte oder grossflächig ausgezäunte Zonen sind keine Lösung, auch wenn der Druck steigt, je mehr Menschen unterwegs sind», sagt Stephan Kaufmann aus Sicht der Wanderwege Graubünden. Dem stimmt Andrea Accola, Werkführer Feldbau am Plantahof, zu: «Das Ziel der Landwirtschaft ist neben einem guten Weidemanagement die Aufklärung. Damit Wandernde wissen, welche Situationen sie beeinflussen können und erkennen, wann eine Umkehr nötig ist.» Problematisch seien unerwartete Aufeinandertreffen, wenn beispielsweise eine Informationstafel im Gelände fehlt, übersehen oder ignoriert wurde. Denn die Kühe wollen nicht überrascht werden.

«Das grösste Risiko sind Begleithunde», stellt Accola klar. Kühe unterscheiden nicht zwischen Wolf und Hund. Sie wittern Gefahr für ihre Kälber und greifen den Vierbeiner sehr wahrscheinlich an. «Der Hund muss ganz ruhig sein, sonst funktioniert es nicht. Setzen die über 600 Kilogramm schweren Tiere als Herde zum Sprint an, endet es nicht gut», sagt Andrea Accola und empfiehlt für Wandernde mit Hunden besondere Vorsicht, den Rückzug oder eine sehr weiträumige Umgehung. Dabei wählt man möglichst eine Route bergwärts. Dies ist für die Kühe anstrengender.

 

Andrea Accola erklärt das Instinktverhalten von Mutterkühen und wie Wandernde bei Kontakt mit einer Herde reagieren sollen.

Langsam bewegen und Warnsignale erkennen
Warum sitzen Kühe oftmals genau auf dem Wanderweg? Andrea Accola weiss: «Sie geniessen die Plätze mit schöner Aussicht, mögen eher flache Stellen zum Liegen und schätzen es, wenn dort der Wind die Fliegen vertreibt.» Tritt etwas oder jemand in ihr Sichtfeld, richten die Kühe ihre Ohren auf und beobachten die Bewegungen aufmerksam. Ihre Neugierde und das schlechte Sehvermögen (nur bis ca. zehn Meter scharf) veranlassen Kühe dazu, sich der Sache anzunähern. Skeptisch und jederzeit fluchtbereit. Ihr Geruchssinn hingegen ist wesentlich ausgeprägter als jener der Menschen. So riechen sie beispielsweise das Salz schwitzender Menschen von Weitem, ein wichtiges Lebensmittel der Pflanzenfresser.

Trotzdem ist es keine gute Idee, sich Kühen und Kälbern mit ausgestreckten Armen als Salzlieferanten zu nähern. Wie bei den Herdenschutzhunden gilt, sich langsam zu bewegen und den Tieren weiträumig auszuweichen, statt mitten durch die Herde zu laufen. Wichtig ist, den Kühen nie den Rücken zuzudrehen und die Signale der Tiere zu beobachten. Erkennt man Drohgebärden wie Schnauben, Brüllen, Scharren oder das Senken des Kopfes, muss die Weide langsam und rückwärts verlassen werden. Kühe riechen nicht nur Salz sondern auch Stresshormone. Hektische Bewegungen oder lautes Rufen infolge Angst sind unbedingt zu vermeiden.

Im Feldversuch beim Gutsbetrieb Plantahof (Ganda) in Landquart zieht allerdings der Stier das Interesse der zehn Kursteilnehmer*innen auf sich. Zufällig ist eine Kuh brünstig und wird gedeckt. «In dieser Situation hat der Stier nur eines im Kopf. Da stellt man sich keinesfalls dazwischen. Ansonsten hält sich der Stier meistens unauffällig in der Mitte der Herde auf. Die Leitkuh hat den höchsten Rang, nicht der Stier», erklärt Andrea Accola.

Beim Eintreten der Wandergruppe in die Weide liess sich das unverzügliche Aufstellen der Ohren aller Tiere beispielhaft beobachten. Mit langsamen Schritten, unterbrochen durch mehrere Pausen, gelingt ein Annähern an die Herde und eine Umgehung wäre problemlos möglich. Hier zeigt sich ein Unterschied zu den Herdenschutzhunden: Kühe bauen eine Beziehung zum Halter auf, die nicht bei jedem Kontakt neu geprüft wird. Ist das Vertrauen da und die Hierarchie geklärt, sind die Begegnungen entsprechend ruhig. «Eine Herausforderung in den Sömmerungsgebieten ergibt sich aus den von verschiedenen Betrieben zusammengestellten Herden. Ist eine auffällige oder aggressive Kuh dabei, welche nicht gleich zu Beginn identifiziert und entfernt wird, bleibt sie ein Problem für die gesamte Herde. Hier gibt es noch Handlungsbedarf. Die Abläufe beim Zusammenführen der Tiere müssen stimmen», erzählt Accola aus Erfahrung.

Die Kuhherde ist sehr aufmerksam. Andrea Accola (schwarzer Pulli) weist auf die typischen Anzeichen bei einer langsamen Annäherung.

Fazit: Verhalten und Situation sind entscheidend

Die Information und Sensibilisierung zu unerwarteten und anspruchsvollen Begegnungen auf den Wanderwegen ist eine wichtige Aufgabe. Sie betrifft Tourismus und Landwirtschaft. Die vielschichtigen Bedürfnisse auf Alpweiden führen zu komplexen Situationen. Plötzlich steht man mitten in einer Herde, die Konstellation verändert sich dynamisch, Spannungen und Stress bauen sich auf. Viele Faktoren spielen zusammen, einzelne können Unfälle auslösen.

Die Erfahrung und das grosse Fachwissen der Experten des Plantahofs ermöglichen praxisnahe Kursangebote mit Vorbildcharakter. Sogar aus Bern reisten Wanderinnen an, um sich in Landquart weiterzubilden. Ihnen war bewusst, dass eine gute Vorbereitung zum Rüstzeug jeder Wanderin gehört. Diese zwei Kurse bieten deutlich mehr Wissen, als man Informationstafeln entnehmen kann. Man beobachtet das Verhalten und die Signale der Tiere und lernt in Begleitung, angepasst darauf zu reagieren. Man erkennt, dass Respekt vor den Tieren ein geduldiges Abwarten oder Umkehren bedeuten kann. Es gehört zum Grundwissen, welches alle Wandernden haben sollten.

 

Text und Bilder: Ramona Fischer